Im Lockdown bekämpft unsere Autorin die Pandemie mit einem Spieleabend und fordert eine Revanche.
Von Anna Jopp
21. November 2020 05:00 Uhr
An einem grauen Novembertag, mitten im Corona-Teil-Lockdown, setze ich mich allein
an den Küchentisch, hole das Spielbrett in Form einer Weltkarte aus der Schachtel
und breite es vor mir aus, mische Kartenstapel, sortiere kleine „Infektionswürfel“
nach Farben. Ich studiere die Regeln von „Pandemie“. Vor elf Jahren war es nominiert
als „Spiel des Jahres“. Es gehört zu den Kooperationsspielen, die mittlerweile sehr
beliebt sind, wie mir Bernhard Löhlein, Sprecher der „Spiel-des-Jahres“-Jury, erzählt
hat. Ausgestattet mit seinen Hinweisen will ich der Magie des Gesellschaftsspielens
auf den Grund gehen. Zunächst mal heute Abend mit Jonas, meinem Mitbewohner. Das will
gut vorbereitet sein.
Denn welches Konfliktpotenzial so ein Spieleabend bergen kann, habe ich mehrfach erlebt.
Zum Beispiel mit meiner Mutter. Seit ich denken kann, ist Scrabble das einzige Brettspiel,
das ihr gefällt. Leider will der Rest der Familie es nicht mehr mit ihr spielen. Erstens,
weil sie eh immer gewinnt. Zweitens, weil sie vor Jahren einmal kaum davon abzubringen
war, das zusammengesetzte Substantiv „Hexenkotze“ über einen dreifachen Wortwert zu
legen. Die Diskussion dauert bis heute an. Auch im Freundeskreis weiß ich von Fällen,
in denen der Streit am Spieltisch nicht immer mit dem Schachmatt oder der letzten
„Uno“-Karte erledigt war.
„Hätten Trump und Biden vor den Debatten miteinander gespielt, wäre der Wahlkampf
bestimmt ganz anders verlaufen.“ Bernhard Löhlein, „Spiel des Jahres“-Juror
Dabei sei gerade das etwas, was man beim Spielen lernen könne, sagt Bernhard Löhlein.
Als „Spiel des Jahres“-Juror spielt der Ingolstädter täglich. „Das Miteinander, das
Aufeinander-Achten, darauf hören, was der andere sagt“, seien wichtige Lektionen,
die man auch als Erwachsener aus Gesellschaftsspielen mitnehmen könne. „Hätten Trump
und Biden vor den Debatten miteinander gespielt, wäre der Wahlkampf bestimmt ganz
anders verlaufen“, sagt Löhlein. Andererseits erlaube das Spiel aber auch, im kontrollierten
Rahmen Emotionen zuzulassen, Wut zu zeigen, auch mal zu weinen – und zu lernen, mit
diesen Gefühlen umzugehen.
Bernhard Löhlein testet Spiele für „Spiel des Jahres“. Foto: Behrens
Löhlein nimmt meinen Anruf zu Hause entgegen, er hat gerade Urlaub. Außer mit der
Familie zu spielen, könne man im Lockdown ohnehin nicht viel machen, sagt er. Für
ihn selbst gelte: Beim Testen dient das Spielen natürlich nicht immer nur dem Vergnügen.
Als Juror muss er bestimmte Spiele ausprobieren, oft auch mehrmals, in verschiedenen
Besetzungen. Genau das werde ich auch tun. Aber nicht mit den Klassikern des gepflegten
Wohnzimmerhorrors wie Scrabble.
Bei Pandemie spielen die Spieler nicht gegen-, sondern miteinander. Sie versuchen
gemeinsam, die Welt von sich ausbreitenden Seuchen zu befreien. Man verliert oder
gewinnt im Team gegen das Spiel. Wie in der Anleitung beschrieben lege ich alle Karten
und Spiel-Plättchen auf die vorgesehenen Markierungen. Dann stelle ich ein kleines
Holzhaus auf das Feld der amerikanischen Stadt Atlanta: Mit diesem ersten „Forschungszentrum“
soll unser Feldzug gegen die Viren beginnen.
Bei Pandemie kämpfen die Spieler nicht gegen- sondern miteinander. Sie versuchen die
Welt von einer sich ausbreitenden Seuche zu befreien. Foto: Jopp
Der perfekte Spieleabend ist wie ein gutes Essen
Der Experte empfiehlt, einen Spieleabend wie ein Menü zu gestalten: Am Anfang, wenn
noch nicht alle da sind, etwas Leichtes und Unterhaltsames – ein kurzes Kartenspiel
etwa. Dann das „Hauptspiel“ des Abends, das sich schon einmal über mehrere Stunden
ziehen darf. Auch das müsse auf die Gruppe abgestimmt sein, jeder sollte gerne und
freiwillig mitspielen. „Idealerweise kennt jemand das Spiel bereits gut“, sagt Löhlein,
„und kann es den anderen erklären.“
Bei neuen Spielen empfiehlt er, die Anleitung schon vorher zu lesen, das Spielmaterial
alleine zu Hause auszupacken, vielleicht eine Proberunde gegen sich selbst zu spielen.
Am Schluss, wenn die Ersten sich verabschieden, dürfe es dann nochmal ein Party- oder
Unterhaltungsspiel sein. Zwischen den Runden seien Pausen wichtig, auch Snacks und
Getränke. „Aber“, mahnt Löhlein, „kein Essen am Spieltisch!“
Die Autorin spielt nicht erst seit Corona gerne. Foto: Van der Kolk
Kein Problem, heute wird am Esstisch gespielt. Und es wird beim „Hauptgericht“ bleiben,
beschließe ich. Zu tief sitzt die Erinnerung an einen Spieleabend bei einem befreundeten
Pärchen wenige Tage zuvor. Als „Absackerspiel“ nach einem komplexen Strategiespiel
hatte jemand eine „Trivial-Pursuit“-Ausgabe von 1984 herausgekramt. „Ab 15 Jahren“
stand auf der dunkelgrünen Pappschachtel.
Ob 15-Jährige im Jahr 1984 tatsächlich wussten, dass die Deutschen Meisterschaften
im Kunstradfahren 1964 in Wiesbaden stattgefunden haben und wie die Meerenge zwischen
Fehmarn und dem dänischen Lolland heißt? Wir jedenfalls hatten das Spiel nach stundenlanger
Würfelei irgendwann einvernehmlich abgebrochen. Die Schachtel verschwand im Regal,
um dort vermutlich frühestens nach weiteren 40 Jahren wieder hervorgekramt zu werden.
Die Welt zu retten fällt leichter im Team
Als Jonas in die Küche kommt, bin ich vorbereitet. Nur, warum nahezu alle Länder im
Spiel durch ihre Hauptstadt oder andere bedeutende Großstädte vertreten sind, Deutschland
jedoch ausgerechnet durch Essen, weiß ich immer noch nicht. Ich lasse Jonas seine
„Rollenkarte“ und vier Handkarten ziehen. Er wird das Virus als Wissenschaftler bekämpfen
– „als Christian Drosten höchstpersönlich“, wie er scherzt – ich selbst als Logistiker.
Die übrigen Rollenkarten kommen für den Rest des Spiels zurück in die Schachtel. Wie
sagte doch Löhlein: „Nicht mit zu viel Wissen auf einmal überfordern.“ Ich beschließe,
die Funktion der aussortierten Karten erst dann zu erklären, wenn wir doch einmal
mit mehr Mitspielern spielen sollten.
„Manche Spiele verlieren ihren ganzen Reiz, wenn man sie mit zu wenigen Mitspielern
spielt.“ Stefan Haimerl, Spieleclub „Ali Baba“
Ein Brettspiel zu zweit – für Stefan Haimerl klingt das ohnehin vergleichsweise langweilig.
Er leitet die Regensburger Gruppe des Spieleclubs „Ali Baba“. Außerhalb von Corona
lädt Haimerl jeden Montag um 19 Uhr zum „offenen Spieletreff“ in ein Regensburger
Jugendzentrum ein. An vier bis fünf Tischen finden sich an solchen Abenden verschiedene
Runden zusammen, mal alte Bekannte, mal neue Gesichter. „Je mehr, umso schöner“, findet
Haimerl. Eine optimale Runde bestehe meist aus vier bis fünf Leuten, bei klassischen
Partyspielen auch mal aus mehr. Er ist überzeugt: „Manche Spiele verlieren ihren ganzen
Reiz, wenn man sie mit zu wenigen Mitspielern spielt.“
Im Regensburger Spieleclub Ali Baba ist jeder willkommen. Archivfoto: mdl
Auch „Pandemie“ könnte dazugehören, vermute ich bald. Vielleicht haben wir einfach
unverschämtes Kartenglück, aber zwei der vier drohenden Epidemien können Jonas und
ich schon nach wenigen Spielzügen im Keim ersticken, indem wir die Spezialfähigkeit
seiner „Wissenschaftler“-Rolle nutzen. Einem drohenden Ausbruch in St. Petersburg
kommen wir gerade noch zuvor. Während Jonas Karten sammelt, mit denen sich ein Gegenmittel
finden lässt, errichte ich in London ein weiteres Forschungszentrum und bekämpfe kleinere
Infektionsherde – ein Teil der Gefahr ist damit vorerst gebannt.
Gänzlich ohne Ehrgeiz geht es nicht
Als wir nach etwa eineinhalb Stunden die Welt gerettet haben, ist das ein gutes Gefühl.
Und: Ich will gleich nochmal spielen, am liebsten mit mehr Leuten. Ich nehme mir vor,
bei Stefan Haimerls Spieletreffs vorbeizuschauen, sobald diese wieder stattfinden
können. Noch am Abend beschäftigt mich die Frage: Hatten wir einfach nur Glück oder
sollten wir schon bei der nächsten Runde ein paar mehr verhängnisvolle „Epidemiekarten“
mit in den Stapel mischen?
„Ich will mit niemandem spielen, der nicht gewinnen will.“ Bernhard Löhlein, Spieleexperte
Was Computerspiele nie ersetzen können, sagen Stephan Haimerl und Bernhard Löhlein
übereinstimmend, sei das Gefühl, den Gegen- oder Mitspieler direkt vor sich zu haben.
„Ich beobachte: Was plant er, wo will er hin, kann seinen Gesichtsausdruck sehen,
wenn ich ihm mit meinem Zug vielleicht gerade die ganze Taktik versaut habe“, sagt
Haimerl. „Den anderen ein bisschen zu ärgern, gehört schon dazu, auch wenn es natürlich
nur ein Spiel ist.“ Löhlein sagt: „Ich will mit niemandem spielen, der nicht gewinnen
will.“
Jonas und ich wollen gewinnen – und zwar als Nächstes auf der Schwierigkeitsstufe
„heldenhaft“, die in der Anleitung beschrieben ist. Wir verabreden uns fürs Wochenende
zu einer neuen Runde. Als das Spiel wieder aufgeräumt ist, greife ich zum Smartphone
und schicke meiner Mutter einen Einladungs-Link zu einer Scrabble-App. Im digitalen
Wörterbuch, hoffe ich, hat die „Hexenkotze“ keinen Platz.
Text: Anna Jopp; Titelfoto: Anna Jopp; Weitere Fotos: Marius Becker/picture alliance/dpa,
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