Der Rat des Buchhandels in der Corona-Krise lautet: „Bücher hamstern!“ Ja, gut. Aber welche? Dafür gab es immer schon Kanons - zum Beispiel den von Denis Scheck.
04. April 2020 05:30 Uhr
Unsere Welt wird immer reicher. Aber mit den Möglichkeiten, die man im Alltag hat,
steigt auch der Stress. Wer die Wahl hat, hat die Qual, fasst das der Volksmund knapp
und klar zusammen. Diese Qual schafft ein Bedürfnis nach Orientierung: damit man nichts
verpasst und immer das Richtige tut. Konkret wird es, zunehmend und scheinbar zumindest,
durch immer neue Listen und „Rankings“ befriedigt. Bewertet werden Ärzte und Fitnessstudios,
Investment-Fonds und Urlaubsziele – und alle erdenklichen Gegenstände, die unser Dasein
verbessern oder, wie es neudeutsch heißt, optimieren könnten. Alle machen mit, nicht
nur Herz-Schmerz-Blätter, sondern auch Nachrichtenmagazine und seriöse Tages- und
Wochenzeitungen. Jüngstes Beispiel in der Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen
unter dem Titel „Was uns gerade wohltut“ und passend zum Coronavirus, das bekanntlich
auch unsere Haut überbeansprucht (permanentes Händewaschen!): eine Liste empfehlenswerter
Handcremes. Testsieger: „Sebamed Handcreme Urea Aktiv“. Begründung im besten PR-Slang:
„Die Creme ... hat eine angenehme Textur, ist nicht zu fest, aber trotzdem sehr reichhaltig
und zieht superschnell ein, ohne einen Fettfilm auf der Haut zu hinterlassen.“
Der Kanon
Im 17. Jahrhundert entstand die Idee eines Kanons der Weltliteratur, den ersten veröffentlichte
1670 Pierre Daniel Huets: „Traitté de l’origine des romans“.
In den folgenden Jahrhunderten flossen nationale Traditionen ein, der Kanon verzweigte
sich.
Mit Aufnahme der Literatur in den Unterricht im 19. Jahrhundert wurden die Lehrpläne
zu einer Art Kanon.
Verlage (z. B. Reclams Universalbibliothek), Medien (z. B. Zeit-Bibliothek der 100
besten Bücher) und Kritiker (z. B. Marcel Reich-Ranicki) stellten eigene Listen zusammen.
Aber nicht nur Cremes braucht man in der Krise. Verzweifelte Buchhändler, die ihre
Läden geschlossen halten müssen, schlagen kurz entschlossen vor: „Bücher hamstern“
– und dafür auch mal die nervige Suche nach dem letzten Klopapier sein lassen! Aber
was soll man sich als geistige Nahrung an die Haustür liefern lassen? Bekanntlich
gibt es noch sehr viel mehr Romane als Handcremes. Kein Problem, denn die Mutter aller
Listen ist der literarische Kanon. Von denen es aber mittlerweile auch schon so viele
gibt, dass demnächst ein eigenes Kanon-Ranking nötig sein wird. Alle großen europäischen
Zeitungen und Zeitschriften haben in den letzten Jahrzehnten ihr eigenes „best of“
vorgelegt. Und einer wie Marcel Reich-Ranicki hielt – unzähliger großer Kritiken und
Bücher und legendärer Auftritte im Literarischen Quartett zum Trotz – seinen umfassenden
Kanon, den er nach der Jahrtausendwende als Frucht lebenslanger Lektüre vorlegte,
für sein Hauptwerk.
„Schecks Kanon ist das Dokument eines Mentalitätswandels: Pop-Phänomen statt Bildungsgut.“
Jetzt zieht Denis Scheck, der gerne seine verwaiste Position einnehmen würde, mit
einem eigenen Kanon nach: nicht vielbändig, sondern kompakt auf vierhundertfünfzig
Seiten mit hundert Empfehlungen, gewitzt, unterhaltsam und immer wieder auch verblüffend.
Denn was Scheck lesenswert findet, unterscheidet sich gelegentlich doch sehr von dem,
was M. R.-R. gerade noch gefallen könnte. Sein Kanon ist das Dokument eines Mentalitätswandels:
nicht steriles Bildungsgut, sondern ein quicklebendiges Pop-Phänomen, das in bester
angelsächsischer Tradition die Differenz von U wie Unterhaltung und E wie Ernst! Ernst!
Ernst! scheut. Deshalb findet sich in Schecks Kanon zwar Astrid Lindgrens „Herr Karlsson
vom Dach“ und Hergés „Tim und Struppi“, aber nichts von unserem aktuellen Literaturnobelpreisträger
Peter Handke.
Der Literaturkritiker und Journalist Denis Scheck Foto: Alexander Kluge/SWR/obs/dpa
Aber die Idee, die hinter seinem Kanon steckt, ist durchaus traditionell. Wer liest,
ist nicht dem Absolutismus der Wirklichkeit ausgeliefert. Er versinkt nicht im aktuellen
Elend, sondern erweitert seinen „Möglichkeitssinn“, wie Musil das nannte. Literatur
ist das beste Heilmittel gegen das Vergessen – und verhindert, dass wir das, was wir
gerade sind, denken und fühlen, aber auch unsere Werte, Normen und „Haltungen“ zu
ernst nehmen. Als virtuelle Weltreisende sehen wir nämlich, dass zu anderen Zeiten
und andernorts auch anderes galt. Insofern ist Literatur, wie schon Plato wusste,
der sie aus seinem idealen Staat verbannen wollte, gefährlich: ein Reservoir der Renitenz,
eine Brutstätte des Eigensinns. Wer lesen als probehandeln versteht, liegt zwar nicht
ganz falsch, aber er unterschätzt doch das Potenzial von Texten.
„Das, was wir im Lauf der Zeit erfahren haben, wie wir uns Nietzsches Diktum ‚Werde,
der du bist!‘ gemäß entwickelt haben, lässt sich an unseren Lektüren im Wortsinn ablesen.“
Ein anderer Aspekt kommt gerade bei Denis Scheck noch hinzu. Der Kanon unserer Lektüren
ergibt in summa unsere intellektuelle und sentimentale Autobiografie. Nur leicht vereinfacht
könnte man sagen: Das, was wir im Lauf der Zeit erfahren haben, wie wir uns Nietzsches
Diktum „Werde, der du bist!“ gemäß entwickelt haben, lässt sich an unseren Lektüren
im Wortsinn ablesen. Deshalb vermutlich auch die Entscheidung für Lindgren und Hergé.
Sie haben ihn „sozialisiert“, sie haben Denis Scheck zu dem gemacht, der uns jetzt
begegnet.
Schecks Kanon
Denis Scheck: Der 55-jährige Literaturkritiker und Übersetzer ist vor allem als Moderator
von Büchersendungen im Fernsehen bekannt (z. B. „Druckfrisch“, „lesenswert“).
Auswahl: Schiller fehlt, dafür gibt es die Peanuts und Tim & Struppi – Denis Schecks
hundert Leseempfehlungen verstehen das Klassische nicht automatisch als gesetzt und
schätzen das Populäre als wichtigen Beitrag zur Literatur.
Buch: „Schecks Kanon: Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ (480 Seiten) ist
bei Piper für 25 Euro erschienen.
Er selbst präzisiert und radikalisiert diesen Gedanken: „Ja, man kann mit Romanfiguren
befreundet sein, ich war es von Kindheit an.“ Das bedeutet natürlich auch: Man liest
seine kanonischen Bücher nicht nur einmal, sondern immer wieder. Sie verändern sich
mit uns, so wie sich auch unsere Freunde verändern, ohne dass man ihnen deshalb, in
den meisten Fällen zumindest, die Freundschaft aufkündigen würde. Ein solcher lebenslanger
Freund ist für Denis Scheck Don Fabrizio, der Herzog von Salinas, der „Leopard“ aus
Tomasi di Lampedusas gleichnamigem Roman. Was gefällt ihm an Don Fabrizio? Dass er
so voller Widersprüche ist, ein kompletter, zerrissener Mensch und nicht bloß die
Verkörperung von Ideen und Idealen. Der Roman beschreibt ihn „als ebenso liebevollen
wie untreuen Ehemann, als Menschen, der die bestimmenden Strömungen seiner Zeit zu
deuten, aber nicht zu lenken weiß“. „Der Leopard“ ist ein Zeitenwende-Roman, das macht
ihn so aktuell – und seinen Protagonisten so wehmütig. Weil er weiß, dass nichts so
bleiben wird, wie es ist, dass alles, was er liebte, vom Verschwinden bedroht ist.
Sehr oft bezeichnet der wissende Melancholiker die letzte, noch zu erreichende Form
von Humanität.
Unsere kanonischen Bücherlisten zeigen, wer wir sind
Von unseren kanonischen Büchern werden wir beschrieben. Sie machen unseren Reichtum
aus, all das, was ohne sie unentdeckt oder zumindest stumm bliebe. Sie zeigen, wer
wir sind oder zumindest sein könn(t)en. Sie stellen uns in einen Horizont alles Schönen
und Schrecklichen. Und sie verweigern sich dem, wozu die individuelle und kollektive
Angst uns zu zwingen scheint: Eindeutigkeit. Sie ermutigen uns, indem sie uns sagen:
Du musst dich nicht ein für alle Mal entscheiden.
„Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich
ihr Schweigen.“ - „Das haben Sirenen und Literaturkritiker gemeinsam.“ Zitat von Franz Kafka, dazu der Kommentar von Denis Scheck
Warum sollten wir ein Buch lesen, das fast dreitausend Jahre alt ist wie Homers „Odyssee“.
Weil es immer noch von uns erzählt, weil sein Potenzial noch nicht erschöpft ist.
Mythisch nennt man Geschichten, die immer wieder neu und anders erzählt werden (können).
Bei der „Odyssee“ war und ist das so. Vergil und Dante haben sich an ihr orientiert,
James Joyce benutzte sie in seiner eigenen Jedermanns-Geschichte aus dem Jahr 1904
(„Ulysses“) als Folie bis in die Details hinein. Für Adorno und Horkheimer ist in
ihrem Schlüsseltext der Moderne („Dialektik der Aufklärung“) Odysseus der Ausgangspunkt,
wenn man das Entstehen und das Schicksal von Subjektivität begreifen will. Und Franz
Kafka erstellt eine Schlüssel-Szene des Epos zur Deutlichkeit, den Moment nämlich,
als der homerische Held seinen rudernden Gefährten die Ohren mit Wachs verstopfte
und sich von ihnen an den Schiffsmast fesseln ließ, damit er den Gesang der Sirenen
hören konnte, ohne ihm zu erliegen. Schönheit kann töten, aber nicht, wenn sie Kunst
geworden ist. Bei Kafka aber ist es noch einmal vertrackter. Bei ihm heißt es: „Nun
haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr
Schweigen.“ Scheck kommentiert trocken: „Das haben Sirenen und Literaturkritiker gemeinsam.“
Die Qual der Wahl vor dem Bücherregal Foto: Jens Kalaene/dpa
An der „Odyssee“ erläutert Scheck aber auch ein Grundproblem unseres Daseins, vor
allem aber des Lesens: dass nämlich alles Verstehen – selbst das des schlichtesten
Worts, das ein anderer an uns richtet – einen Akt der Interpretation voraussetzt.
Man könnte sagen: Alles Leben und Lesen, sofern es wesentlich Kommunikation ist, besteht
aus Übersetzung. So wird das Fremde zum Eigenen. Jeder Blick, jeder Gedanke „schwimmt“
in einem Hof von Bedeutungen, ist voller Konnotationen. Für komplexe literarische
Texte gilt das besonders und in verschärfter Form für fremdsprachige Sätze.
Man kann das schon im zweiten der 12 110 Verse der „Odyssee“ sehen. Dort wird der
Held als „andra ...polytropon“ charakterisiert. Was heißt das? „Andra“ steht für „Mann“.
Aber „polytropon“? Das kann „vielgewandert“ bedeuten, was ja auf den irrfahrenden
Odysseus zweifellos zutrifft, aber eben auch „vielgestaltig“ oder „wandlungsreich“.
Denis Scheck erweitert die Aufmerksamkeit ins Bildhaft-Metaphorische und schreibt:
„Man könnte ihn aber auch ebenso gut einen ‚Fuchs‘, ‚Gauner‘ oder ‚Blender‘ nennen.“
Und welche Übersetzung wäre dann die richtige? Keine. Man muss alle Varianten zugleich
im Auge haben, wenn man den Sinn des Textes nicht unzulässig verkürzen will.
Das richtige Buch zu finden, grenzt manchmal an eine Odyssee. Foto: Arne Dedert/dpa
Wie Literatur die innere und äußere Welt abbildet, man könnte auch sagen: „bedeutet“,
das fasziniert und irritiert von alters her. Schon die Hochreligionen wussten, dass
das Wort Gottes, selbst wenn es in einem heiligen Text präsent zu sein scheint, transzendent
bleibt. Wir sind auf nie endende Exegesen angewiesen, weshalb alle Rabbis und Scheichs
sich bis ans Ende aller Tage so heftig und oft durchaus produktiv streiten können.
Jorge Luis Borges hat dafür eine Parabel gefunden. Die Geschichte eines Königs, der
von einem Kartographen fordert, sein Reich auf einer Karte abzubilden. Er war mit
den Resultaten der Arbeit immer unzufrieden, die Karten wurden größer und größer,
aber selbst wenn sie groß wie sein Reich würden, könnten seine Wünsche nicht in Erfüllung
gehen. Die Realität ist etwas anderes als ihre Darstellung.
Die Darstellung ist reicher als die Realität
Michel Houellebecq, von Scheck in seinen Kanon aufgenommen, obwohl er ihn immer wieder
verabscheut – aber Moral hat eben in ästhetischen Dingen zu schweigen –, reflektiert
darüber in seinem Künstlerroman „Karte und Gebiet“ und kommt zu dem verblüffenden
Schluss, dass die Darstellung uns mehr zeigt, also reicher ist als die Realität, in
der doch immer alles diffus bleibt. Meint Houellebecq das ernst – oder ist es pure
Ironie, die darauf verweist, dass wir uns die Natur zwar erst klarmachen müssen, um
sie zu verstehen, aber dass das eben auch immer und notwendig ein Verlust-Geschäft
ist. Kein Text kann die Realität erschöpfen. Weshalb ja die Devise nur lauten kann:
immer weiter schreiben und, vor allem auch, lesen. Der Kanon wäre dann ein Verzeichnis
der besten Texte; wobei uns stets klar sein muss, dass es auch jenseits des jeweiligen
Kanons Lesenswertes gibt.
„Der Kanon ist gewissermaßen eine Karte, um sich auf unübersichtlichem Terrain zurechtzufinden.“
Schon der Gründungs-Text der europäischen Literatur, „Die Odyssee“, verwies darauf,
dass (ästhetische) Neugier brandgefährlich sein kann. Und formulierte ein frühes Paradox:
Man kann auf den Gesang der Sirenen nicht verzichten, auch wenn er tödlich sein kann.
Schecks Kanon variiert diesen Gedanken in vielen Spielarten, quer durch fremde Zeiten
und Kulturen. Er zeigt uns aber, dass der homerische Held uns nicht nur die Neugier
überliefert hat, sondern auch die List. „Tausendundeine Nacht“ ist eine der reichsten
Sammlungen kanonischer Texte. Am Ursprung steht der König, der aus seinem Fantasma
der nicht kontrollierbaren Sexualität der Frau den mörderischen Schluss zieht, nur
mit Jungfrauen die Nacht zu verbringen – und sie am nächsten Morgen töten zu lassen,
damit sie ihm nicht untreu werden können. Aber dann trifft er auf Scheherazade, die
mit der Macht ihrer Erzählungen ihr Leben rettet, weil der König einfach wissen muss,
wie es weitergeht. So geht es auch dem passionierten Leser; gerade jetzt, wo er das
Haus nach Möglichkeit nicht verlassen soll; und der Kanon ist eine erste Anleitung,
gewissermaßen eine Karte, um sich auf unübersichtlichem Terrain zurechtzufinden.
Text: Helmut Hein; Titelfoto: Martin Schutt dpa; Foto Brille auf Büchern: Jens Kalaene/dpa;
Foto Denis Scheck lesend: pa/obs/SWR/Peter A. Schmidt/dpa; Foto Bücherstapel: Jan
Woitas/dpa