Vor 150 Jahren starb Marie Schandri, die Autorin des Regensburger Kochbuchs. Über ihr Leben ist wenig bekannt. Eine Spurensuche
Angelika Sauerer
05. Juni 2020 15:17 Uhr
Am Ende gibt es mehr Fragen als Antworten. Wie hat Marie Schandri gelebt? War sie
temperamentvoll oder ruhig? Vergnügt oder ernst? Glücklich allein oder doch manchmal
zu zweit? War sie eine strenge Chefin oder eine fürsorgliche? War sie gesellig oder
wortkarg? Reiste sie, um ihren Geschmackssinn zu schärfen und neue Aromen zu finden?
Der Archivar Günther Handel, die Schriftstellerin Marita A. Panzer und der Koch Anton
Röhrl wissen es nicht. Und doch erzählt jeder von ihnen eine wahre Geschichte über
die Köchin des Gasthofs „Zum Goldenen Kreuz“ in der Patrizierburg am Haidplatz. Schandris
„Regensburger Kochbuch“ erschien erstmals 1866, zwei Jahre vor ihrem Tod, und wurde
seither an die hundert Mal neu aufgelegt.
Bei Anton Röhrl handelt die Geschichte von einer Liebe zum Essen, die – wie sonst?
– durch den Magen geht. Bei Marita A. Panzer ist es die Erfolgsgeschichte einer frühen
Karrierefrau, die das Privatleben ihrem Aufstieg untergeordnet hat. Günther Handel
letztendlich ist derjenige, der das weitgehend unbekannte Leben einer der berühmtesten
Regensburgerinnen mit einigen wenigen Fakten belegt.
Das „Regensburger Kochbuch“ von Marie Schandri: Buchdeckel der 69. Auflage aus dem
Jahr 1924 Foto: Tino Lex
Gab es sie überhaupt? Diese Frage stand immer wieder im Raum, denn Marie Schandri
hat so gut wie keine Spuren in Akten und Archiven hinterlassen. Zwar notierte die
Pfarrei Luhe die Geburten einer Maria (1788) und einer Maria Katharina Schandri (1796).
Außer der Namensgleichheit fehlt jeder Hinweis auf die Identität. Schandris Lebenswerk,
das Kochbuch, erschien 1866 im Verlag Coppenrath, „herausgegeben von Marie Schandri,
ehedem vierzig Jahre Köchin im Gasthof ‚zum goldenen Kreuz‘ in Regensburg“, so steht
es auf dem Deckblatt. Das Vorwort unterzeichnete Isabella Coppenrath, die Verlegersgattin.
Hat sie auch den Rest geschrieben und die Marie nur als Pseudonym erfunden? Günther
Handel konnte nicht glauben, dass eine Küchenchefin, die 40 Jahre lang in einer Nobelherberge
gekrönte Häupter und gut betuchte Bürgersfamilien mit Gerichten wie Artischocken auf
Lyoner Art und in Schmalz gebackenen Fröschen verwöhnt hat, nirgends belegbar sein
soll. Marie Schandri war buchstäblich in aller Munde, aber in keiner Akte. „Sie kam
nach Regensburg, als das Einwohnermeldewesen noch nicht eingeführt war. Sie hat nie
geheiratet und hatte vermutlich keine Kinder“, sagt der Archivar aus dem Regensburger
Stadtarchiv. Und sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen, denn auch im Polizeiregister
wird keine Schandri gelistet. Ende der 90er Jahre tauchte Günther Handel in die Archive
ab. Er hatte eine Vermutung. Und er stieß tatsächlich auf die Nachlasssache einer
gewissen Margaretha Schandri.
„Das ist ein Riesenanregungspotpourri auch für heutige Tage.“ Anton Röhrl, Koch und bis Ende 2016 Wirt der Weltenburger Klosterschenke
Fasanenpasteten mit Trüffeln. Gänseleberpastete vorzüglich. Gesottene und dann glacierte
Kastanien. Sauerampfer. Schüh (Jus oder braune Suppe) … Schnell wuchs die Zahl der
Rezepte von über 800 in der Erstauflage auf gut 2000 in der Auflage von 1915. „Das
ist ein Riesenanregungspotpourri auch für heutige Tage“, sagt Anton Röhrl, Koch und
bis Ende 2016 Wirt der Weltenburger Klosterschenke. Beispiel Biber: Wenn das geschützte
Tier heute an manchen Orten ausnahmsweise wegen Überpopulation gejagt werden darf,
findet man im Regensburger Kochbuch das passende Rezept: Gedämpfter Biber, Seite 630.
Es steht kurioserweise unter den Fastenspeisen, denn die katholische Kirche hat den
Verzehr von Biberfleisch wegen des Fischschwanzes in der Fastenzeit erlaubt.
Zum Kochen braucht man Gefühl und Liebe Anton Röhrl
Ab und zu hat auch Anton Röhrl sich schon inspirieren lassen. Er weiß, wie es bei
der Schandri geschmeckt haben muss: kräftig, herzhaft, buttrig und schmalzig. Saucen,
Suppen und Gemüse staubte sie gern mit Mehl. Sie liebte Mehlspeisen und Gebäck, Kompott
und Eingemachtes. „Man kann es manchmal nicht eins zu eins übernehmen“, meint Röhrl.
Und doch merkt er beim Blättern und Lesen, dass „hier jemand kocht, der sensibel mit
den Zutaten umgeht“. Marie Schandri muss eine Frau gewesen sein, die mit offenen Sinnen
durchs Leben ging, die Traditionen pflegte und Neuem gegenüber aufgeschlossen war.
„Zum Kochen braucht man Gefühl und Liebe“, sagt Anton Röhrl. „Beides hatte die Marie
Schandri.“ Und dazu wohl auch Stehvermögen und Durchsetzungskraft.
Aus einfachen Verhältnissen an die Spitze der Kochkunst
Eine Karrierefrau. Marita A. Panzer lässt den Blick durch das einstige Reich der Meisterköchin
schweifen. Wo das Café Goldenes Kreuz heute Kuchen und Kaffee serviert, wurden früher
Gebratene Wachteln und Reh-Fricando aufgetragen. Die Schriftstellerin und Historikerin
hat der Chefin des Hauses ein Kapitel in ihrem Buch „Bayerns Töchter“ gewidmet. Eingeordnet
hat sie Marie Schandri unter den „Erwerbstätigen Frauen“.
Marita A. Panzer, Schriftstellerin und Historikerin Foto: altrofoto.de
Panzer ist beeindruckt von der Lebensleistung einer Frau aus einfachsten Verhältnissen,
die es an die Spitze der Topgastronomie geschafft hat. Vermutlich hatte sie nicht
viel Privatleben. „Das war ein Knochenjob. Sie stand ständig unter Zeit- und Erfolgsdruck“,
meint Panzer. Zu Tisch saßen gekrönte Häupter wie der bayerische König Ludwig I.,
Kaiserin Alexandra von Russland und Prinz Gustav von Schweden. Ab 1865 vergnügten
sich die Schönen und Reichen auf Bällen im prächtigen Kreuzsaal. Im kleinen Saal konferierten
1866 die Minister des preußischen Kabinetts. König Wilhelm I. war inkognito angereist,
begleitet von Otto von Bismarck. „Marie Schandri hat eine erstaunliche Karriere gemacht“,
sagt die Autorin, deren Frauenporträts auch als Geschichte der Geschlechterrollen
– Gender History – zu lesen sind. „Im 19. Jahrhundert unterlagen die arbeitenden Frauen
der Unterschicht einer Doppelbelastung: Job und Hausarbeit. In großbürgerlichen Familien
hingegen wurden sie vom Berufsleben ferngehalten, es blieb das Dasein als Ehefrau
und Mutter.“ Letztere waren denn auch die Adressatinnen des Regensburger Kochbuchs.
Das Titelblatt der Ausgabe von 1924 Foto: Tino Lex
„Zunächst für die bürgerliche Küche“ steht auf dem Deckblatt. Marie Schandri lehrte
die Damen des Hauses und ihre Köchinnen auch Sparsamkeit, Warenkunde und Hygiene.
Karriere war für die Frauen in dieser männlich geprägten Welt von Biedermeier und
Gründerzeit nicht vorgesehen. Schandri brach quasi mit den Regeln. Sie stieg aus der
Dienstboten- und Küchenhilferiege auf: eine ihren Mann stehende Frau. Der Preis war
der Verzicht auf Familie. Der Lohn ein beträchtliches Vermögen.
In der zinnenbewehrten Patrizierburg am Haidplatz befand sich die Nobelherberge „Zum
goldenen Kreuz“. Foto: Jürgen Meinelt/MZ-Archiv
Selbst wenn man sein ganzes Leben lang nicht aktenkundig wurde – beim Tod musste es
sein. Günther Handel wusste, dass für alle Nachlassverfahren die Königlich Bayerischen
Behörden zuständig waren. Deren Akten aber lagern nicht im Regensburger Stadtarchiv,
sondern im Staatsarchiv Amberg. Dort stieß der Archivar auf eine Margaretha Schandri,
verstorben am 10. November 1868 in Regensburg und getauft am 16. Juni 1800 in Luhe.
Sie hinterließ ihrer Schwester Anna ein Erbe im Wert von 3200 Gulden. In Regensburg
hätte man sich damals dafür ein stattliches Anwesen kaufen können, rechnet Günther
Handel vor. Dass Margaretha tatsächlich Marie war, geht aus dem Protokoll der Testamentsübergabe
hervor. Der Notar schreibt, Margaretha Schandri sei die Köchin des Goldenen Kreuzes
gewesen. Auch der damalige Besitzer der Nobelherberge, Karl Peter, bezeugte die Testamentsübergabe.
Sie selbst hatte das Testament 1865 in zittriger Schrift mit „Margretha Schandri“
unterschrieben. 1999 veröffentlichte Günther Handel seine Erkenntnisse.
In der Rote-Hahnen-Gasse hat sie gewohnt
Die „Jungfrau Margaretha“ war die Tochter eines Wagners und hatte vier Geschwister.
Die Mutter hieß Kunigunde, und wenn Anton Röhrl recht haben soll, dann war wohl auch
sie eine begnadete Köchin: „Der Ursprung jeder Kochkultur ist der heimische Herd.“
In Regensburg wohnte Margaretha Schandri in der Rote-Hahnen-Gasse 6 (heutiger Eingang
in der Pustet-Passage) – da hatte sie nicht weit in die Arbeit. Begraben wurde sie
auf dem Lazarusfriedhof (heute Stadtpark) nach der Aufbahrung im dortigen Leichenhaus.
Als Todesursache nennt das Protokoll „Marasmus“, was man allgemein mit Altersschwäche
übersetzten kann. Arztkosten deuten auf ein längeres Leiden hin.
Bilder brauchte man damals nicht viele. Die wenigen Illustrationen zeigen das Notwendigste.
Foto: Tino Lex
Womöglich haben ihre Fans befürchtet, sie könnte ihr Wissen mit ins Grab nehmen. „Wiederholte
Aufforderungen, namentlich von seiten einiger meiner Freundinnen, haben mich bestimmt,
meine langjährigen Erfahrungen in der Kochkunst in dem hier vorliegenden Kochbuche
niederzulegen“, heißt es im Vorwort. Es ist egal, ob sie es mit eigener Hand geschrieben
oder der Isabella Coppenrath diktiert hat. Mit ihren Rezepten lebt Marie Schandri
weiter. Anton Röhrl erklärt es mit Marcel Proust, dessen biografischer Roman „Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit“ mit einem Gebäck beginnt, das Madeleine heißt
und mit seinem Aroma die Erinnerungen zurückholt.
Das Lebenswerk der Marie Schandri als Vorbild
Suchte man einen aktuellen Vergleich zur Lebensleistung einer Marie Schandri, würde
man bei keinem Geringerem als dem französischen Meisterkoch Alain Ducasse landen,
sagt Anton Röhrl, Chancelier der Chaîne des Rôtisseurs in Ostbayern.
Folgerichtig hat die ostbayerische Gruppe (Bailliage Bavière Orientale) der Confrérie
de la Chaîne des Rôtisseurs ihren Preis für Verdienste um die gastronomische Kultur
in Niederbayern und der Oberpfalznach Marie Schandri benannt.
Marie Schandri sei „eine herausragende Figur“ nicht nur in der kulinarischen Szene
Regensburgs gewesen. Mit ihrem Lebenswerk, dem „Regensburger Kochbuch“ inspirierte
sie Köchinnen und Köche weit über die Grenzen Bayerns hinaus.
Die Chaîne des Rôtisseurs ist eine Bruderschaft des guten Geschmacks. Sie feiert dieses
Wochenende in Regensburg 770 Jahre Gründung in Frankreich, 60 Jahre Bailliage National
d’Allemagne und 20 Jahre Bailliage Bavière Orientale.